MUSS MIR DAS PEINLICH SEIN? – WAS SCHÜLER*INNEN IN NEUEN LERNSETTINGS LEISTEN

Ob wir wollen oder nicht: Während sich die Gesellschaft um uns herum rasant verändert – und mit ihr die Möglichkeiten und Formen des Lernens, bewegt sich in der Schule, trotz der Erfahrungen des letzten Jahres, erst einmal viel zu wenig. Hier und dort machen sich Lehrer*innen auf den Weg, die im letzten Jahr mit Technik gefluteten Schulen auch inhaltlich-pädagogisch zu erneuern. Um die Erfahrungen, die ihre Schüler*innen beim Erkunden neuer Lern-Wege machen, geht es in diesem Beitrag.

Die Integration digitaler Medien im Unterricht hat weitreichende Folgen: Was sich im Klassenraum abspielt, ist ganz anders als in bisher gewohnten didaktischen Settings. Lernende und Lehrende entdecken Möglichkeiten und Verhaltensweisen, die ungewohnt und bisher stellenweise verboten waren. Diese neuen Wege möchte ich exemplarisch erläutern an der sog. KOLLABORATION, am Beispiel einer (beliebigen) Projektarbeit.

Projektarbeit an sich ist nichts Neues – digitale Medien erweitern diese Form des Lernens jedoch auf vielfache Weise. Die folgenden Überlegungen beruhen auf meinen Erfahrungen mit Schüler*innen im Gymnasium.

Veränderte Schüler*innen-Rolle

Gemeinsam, nicht einsam – Aufhebung der individualisierten Konkurrenzsituation

Jeder gegen jeden:

Standardisierte Prüfungsformate testen individuelle Gedächtnisleistungen, fehlende Transparenz bei der Notenvergabe, bloß nicht „abgucken“ (lassen), keine Hilfsmittel (z.B. das Internet) verwenden wie sie nach der Schule üblich und effizient sind – an diese Normen werden Schüler*innen schon früh gewöhnt. Alle damit einhergehen-den Verhaltensweisen übernehmen sie mehr oder weniger klaglos.

Nicht das Interesse am Inhalt, sondern das Bestreben, den Anforderungen der Lehrkraft (kritiklos) gerecht zu werden und eine möglichst optimale Benotung zu erzielen, stehen im Zentrum aller Anstrengungen. Was Lernen außerhalb von Schule auf natürliche Weise initiiert: Neugier, Lust am Entdecken, Forschergeist, Einsatz-willen, Anstrengungsbereitschaft – vieles davon bleibt im Laufe des Konditionie-rungs- und Gewöhnungsprozesses an standardisierte Normen und zu erreichende Abschlussnoten, die wiederum Türen bestimmter Studiengänge öffnen, mit einhergehenden Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen auf der Strecke.

Die Arbeit mit digitalen Medien offenbart in vielerlei Hinsicht Stärken und Schwächen unseres Unterrichts; ihre erweiterten Möglichkeiten sprengen oftmals 
klassisch-didaktische Settings. Nun werden urplötzlich Verhaltensweisen, die bisher  sanktioniert wurden, gefördert/gefordert, nun soll man plötzlich an der Festlegung von Bewertungskriterien partizipieren, den eigenen Arbeitsprozess gestalten und reflektieren, miteinander arbeiten, im Peer-Feedback die Leistungen anderer positiv und negativ kritisieren, sich gar an Bewertungen beteiligen: Wer wollte das bisher? Lehrkräfte, die sich in den letzten Jahren auf den Weg des Einsatzes digitaler Medien und damit verbundener Weiterentwicklung ihres Unterrichts gemacht haben, kennen vermutlich die Change-Prozesse, die diese bei den Schüler*innen auslösen. 

Förderlich wirkt hier eine gemeinsame digitale Lernumgebung, die es ermöglicht, per Video-Chat den anderen schnell zu erreichen, um ggf. Aufgaben gemeinsam zu bearbeiten.

Teilen: Geben und nehmen, sich gemeinsam weiterentwickeln

Für viele Schüler*innen ist Transparenz eine große Herausforderung. Ging es doch bisher stets nach dem Prinzip Jeder gegen jeden, sollen die Beiträge den anderen
nun zur Verfügung gestellt und ihrer Kritik ausgesetzt werden? Aufgrund jahrelanger Konditionierungen (s.o.) haben sie sich oftmals in einer individualisiert-abgeschotteten Umgebung, in der nur sie und die Lehrkraft ihren angestammten Platz hatten, eingerichtet. Es kostet sie oftmals viel Mühe und Überwindung, nun den anderen ihre Beiträge offenzulegen und sich ihrer Kritik zu stellen.

Gleichzeitig sind sie selbst gefragt, Beiträge der Gruppenmitglieder (positiv und negativ) zu kritisieren – hier zeigen sich oftmals selbst bei Oberstufenschüler*innen reflexartig Fokussierungen auf die dafür bisher allein zuständige Bewerter*innenrolle der Lehrkraft, sodass dieser Reflexionsprozess, der kritisches Denken initiiert und einfordert, zunächst nur widerwillig und sehr holprig beginnen kann.

Gerade bei jüngeren Schüler*innen ist hier lenkendes Moderieren der Lehrkraft, deren  Blick in den Arbeitsprozess der Gruppe durch eine gemeinsame digitale Lernplattform ermöglicht wird, hilfreich.

Die Erfahrung, gemeinsam mehr und Besseres für sich selbst und die Gruppe zu erreichen, ist die Grundlage für selbstständige, eigenverantwortliche Kooperation in der nächsten Projektphase, für Freude an der gemeinsamen Arbeit.

Unterstützen: Technik, Tools, Methoden

Bei der Übernahme neuer Klassen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass mich die Schüler*innen in den ersten Stunden mit Fragen überhäufen, die sie leicht auch gemeinsam mit ihren Nachbarn hätten lösen können. Diese Lehrerfixierung ist auf Dauer nicht nur nicht durchzuhalten, sondern steht kontraproduktiv zur lernförderlichen Zusammenarbeit der Schüler*innen. 

In jeder Klasse kristallisieren sich nach wenigen Wochen die ersten Freaks heraus,
die Tools gesucht und ausprobiert haben und mit ein wenig Ermunterung diejenigen unterstützen können, die noch nicht so weit sind. Insgesamt wird so ein Lernklima und eine Arbeitsatmosphäre in der Klasse initiiert, die eine wirkliche Lerngemeinschaft begründen können. Die Transparenz der Schüler*innenleistungen etwa auf einer gemeinsamen digitalen Lernplattform entzieht übrigens
jedem Vortäuschen vermeintlicher Tatsachen den Boden und entlastet den Unterrichtsalltag ungemein.

Peer-Feedback

Eine großartige Möglichkeit, Reflexionsvermögen, Kritik- und Kooperationsbe-reitschaft zu fördern und einzuüben. Diese Form der Aktivierung von Schwarm-intelligenz ist in vielerlei Hinsicht effizienter als die alleinige Rückmeldung durch die Lehrkraft. Zum Peer-Feedback ließe sich Vielfältiges und Detailreiches sagen, das diesen Rahmen sprengen würde, nur soviel: Ich kann nur dazu ermuntern, zunächst mit kleinschrittigen, dann mit immer weiter gefassten Vorgaben zu Rückmeldungen der Schüler*innen aufzurufen, sodass letztlich eine Arbeitsatmosphäre entstehen kann, in der sie selbständig in bestimmten Arbeitsphasen Feedback erfragen bzw. geben.

Fazit

Neuartige, durch die regelmäßige Arbeit mit digitalen Medien folgerichtig initiierte Arbeitsprozesse stellen über Jahre konditionierte Schüler*innen zunächst vor große Herausforderungen. Im Laufe der Zeit verändern sie ihre Lern- und Verhaltens-weisen, fördern ihre Motivation, Verantwortung sowie Selbstständigkeit und lenken ihre Lehrkraft-Fixierung auf die Gruppe und den Arbeitsprozess. Begleitende Reflexionen und gemeinsame Bewertungsgespräche dieser  Arbeitsprozesse helfen, dafür ein Bewusstsein zu schaffen.

Auf diese Weise wird auch der Scholar des 13. sich sogar in der Schule des 21. Jahrhunderts auf eine veränderte Gegenwart einstellen.

Erläuterungen, weitere Hinweise, Beispiele und Übungen für den Unterricht in der Fortbildung!

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